Viele Organisationen haben einen Vorrat an Handlungswissen über den Kontakt zum Kunden. In filialgestützen Organisationen ist dieses Wissen täglich verfügbar aber nicht explizit vorhanden. Was bedeutet das und was hat es Digitalisierung zu tun?
Fangen wir an mit einem Beispiel. Bei der Geldanlage haben Kunden häufig einen Home-Bias, d.h. sie kaufen vor allem Anlagen, die sie kennen. Erfahrene Berater können daraus ableiten, dass der Kunde eine Vorliebe für Investments hat, die er aus dem Heimatmarkt kennt, zu denen er in der Lage ist, sich etwas vorzustellen. Eine dergestalt einfache Denkstrategie für effizientere Urteile und Problemlösungen bezeichnet man als Heuristik deren Archetypus im vorliegenden Fall vielleicht lautet: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“.
Evolutionär mag es durchaus sinnvoll gewesen sein, sich nur mit Bekanntem einzulassen, weil Unbekanntes Gefahren birgt. Solche Heuristiken haben eine hohe Schutzwirkung, sind schnell verfügbar und bieten eine effektive Orientierung. Andererseits haben sich in modernen Gesellschaften Systeme zum Umgang mit Risiko herausgebildet, die uns jenseits einer dichotomen 0/1 Entscheidung differenzierte Handlungsalternativen ermöglichen. Damit wird das Handlungsspektrum für den Kunden von einem „Kenn ich nicht – will ich nicht“ hin zu einem Umgang mit seinen Investments erweitert, der zu seinen Präferenzen passt. Das berührt die Frage welche Investments der Kunde hat und bevorzugt.
Darüber hinaus gibt es Entscheidungskriterien in der Beratung zur Geldanlage, die eine parametergestütze Bewertung der Anlagegüte erlauben. So sollte etwa im vorliegenden Fall die Entstehung eines Klumpenrisikos vermieden und auf ausreichende Diversifikation geachtet werden. Für den Berater heisst das, er muss zwischen Homebias und Diversifikation die richtige Abstimmung finden.
Aus Banksicht ist die Verfügbarkeit von effektiven Heuristiken in der Beratung der Kunden wichtig. Ein Kunde wird schnell verstanden und das stellt eine Art Anker dar, um mögliche und für den Kunden sinnstiftende Portfolioerweiterungen oder -änderungen zu identifizieren. Der Kunde wird mit seiner Weltsicht abgeholt. Ohne diesen Bezug herzustellen zu den vorhandenen Investments des Kunden und seinen Präferenzen, besteht die Gefahr, den Kunden mit kompliziert anmutenden Erweiterungen seiner Weltsicht zu überfordern.
Stellt man sich eine softwaregestützte Lösung für die individuelle Beratung von Geldanlage vor, sollte diese Lösung etwas Vergleichbares leisten. Daher kommt den vorstehend skizzierten Heuristiken im Rahmen von Digitalisierungsprojekten eine besondere Bedeutung zu.
Es geht im Rahmen der Digitalisierung darum, funktionierende, realitätsgerechte und fehlerfreie Algorithmen zu finden und damit idealerweise auf bisher intuitiv durchgeführte Heuristiken aufzusetzen.
Banken sind gut beraten, wenn sie die Beratungssituation mit dem Kunden als Einstieg in das Thema Digitalisierung betrachten. Fragt man jedoch den Berater, wie er im Rahmen der Kundeninteraktion vorgeht, sind ihm manche der automatisch verwendeten Heuristiken nicht bewusst oder es fällt ihm schwer diese zu formulieren.
Digitalisierung ist immer eine Erweiterung etablierter Schemata
In unserem Beispiel war die zum Home-Bias des Kunden passende Heuristik des Beraters, ihm mehr vom Gleichen zu verkaufen. Verfügt der Berater über eine entsprechende Lösung, die zeigt, welche Klumpenrisiken vorhanden sind und wie diese reduziert werden können, führt das im Sinne des Kunden zu einer Empfehlung mit der das bisherige Handlungs- und Empfehlungsschema erweitert wird.
Das leistet ein Algorithmus, der sowohl Kunde als auch Berater die Sicherheit fehlerfreier, regulationskonformer Empfehlungen vermittelt. Ins Spiel kommt die finanzmathematische Analyse des Klumpenrisikos, die im Sinne des Kunden über das bisherige, heuristisch geprägte Handeln hinausführt.
Es wäre schade, wenn schon der erste Schritt in die Digitalisierung, nämlich die Abbildung des Beraterwissens, nicht gelingt. Gelingt es hingegen das heutige Wissen abzubilden, sollte die Digitalisierung auch zu einer Erweiterung des Beraterhandelns führen. Gelingt dies nicht, wird der Berater überflüssig, weil der Algorithmus, der das gleiche leistet wie der Berater, billiger und weniger fehleranfällig ist.