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Digitalisierung – immer eine Dimension mehr?

© Joachim Löning

Digitalisierung ist ein Dauerbrenner in der öffentlichen und professionellen Diskussion. Einer der Gründe, warum das so ist mag darin liegen, dass die Definition breit angelegt ist und sich sowohl Ängste als auch Sehnsüchte damit verbinden lassen. Idealerweise sollen alle weniger arbeiten und wenn dann noch voller Lohnausgleich dazukommt, lässt sich ganz leicht von Digitalisierungsrendite sprechen.

Immer ist die Idee im Spiel, man könne mit Computerhilfe Dinge vereinfachen, die früher nur händisch gingen. Als vor 35 Jahren der Personal Computer zum „Mann des Jahres“ beim Time Magazin wurde (zwischen Lech Walesa (1981) und Ronald Reagan (1983)), war das ein erster Höhepunkt der Welle von Verlockungen, die mit Computern assoziiert sind. Heute ist der Zeitgeist etwas differenzierter. Man weiss, dass Computer aus Hardware und Software bestehen, und Hardware immer billiger wird. Hardware rückt in die Cloud, in den Hintergrund und es ist die Software die den Fortschritt bringt.

Robo-Advisor als Beispiel für Digitalisierung?

Schauen wir auf das Thema Geldanlage. Die Anzahl digitaler Anbieter hat schnell zugenommen. Interessierte Anleger konnten im letzten Jahr beim Roboadvisor Kompass der Zeitschrift Capital 16 Anbieter vergleichen und in diesem Jahr waren es schon 28. Grundlegend für die Gründung all dieser Geschäftsmodelle ist die Vorstellung es gebe eine hinreichend große Zahl von Nutzern, die sich unter Verzicht auf die Vermittlung durch einen Menschen auf einen digital dargebotenen Workflow einlassen.

Der softwaregestützte Workflow muss schon zur Erfüllung regulatorischer Vorgaben genau das abbilden, was bisher der Berater gemacht hat – Fragestrecke zur Profilierung, Identifikation der passenden Portfoliostrategie und rechtlich tragfähige Anmeldung. Eine 1:1 Abbildung per Software ist kostengünstiger, vor allem mit zunehmender Nutzerzahl und schon kann man wirtschaftlich von einer Digitalisierungsrendite sprechen. Es müssen nur noch hinreichend viele Kunden dem neuen Computermodell vertrauen.

Kunden sind jedoch zögerlich und laufen nicht gerade in Scharen zu den neuen Robo-Beratern. Daher sind auch die meisten Robo-Advisor auf die Gewinnung von Bestandskunden anderer Institute fokussiert, die die räumliche und zeitliche Flexibilität und einen Preisvorteil zu schätzen wissen. Zweifellos kommt es auch bei solchen Businessmodellen der Kategorie „alles wie früher, nur ohne Berater und Filiale“ zu einer Digitalisierungsrendite.

Interessanter sind solche Digitalisierungsrenditen, die daher rühren, dass digitale Geschäftsmodelle aufgegriffen werden, die nur mit digitalen Mitteln umsetzbar sind und früher schlicht unmöglich waren (Keese, C. Silicon Germany, 2017, S. 23, 5.). Im Kontext von Robo-Advisor Modellen stellt sich die Frage, was jenseits einer 1:1 Abbildung des alten, früher von Menschen dargebotenen Angebotes neu, weil früher unmöglich war. Im Folgenden sollen zwei mögliche Stoßrichtungen erörtert werden: Mass Customization und Erweiterungen der Mensch Maschine Interaktion.

Hin zur Mass Customization

Das Angebot im Segment Herrenbekleidung ist ein guter Analogielieferant. Maßgeschneiderte Anzüge (Custom-Made) sind einzigartig und teuer, Konfektion ist industriell gefertigte Massenware und günstig. Mit der Einführung digitaler Technolgien (Lasermessung) ist Mass Customization möglich geworden.

Mass Customization als Beispiel für eine funktionale Erweiterung des Angebotsspektrums beim Robo-Advisor würde dem Angebot individueller Portfoliolösungen entsprechen. Das aber machen nur wenige der am Markt befindlichen Robo-Adviser, die meisten belassen es bei einem vglw. einfachen Re-Balancing, also einer Überwachung und der gelegentlichen Wiederherstellung einer inital festgelegten Asset Allocation, die in der Regel eine Auswahl einer vordefinierten Alternative darstellt. Hinzu kommen Laufzeitvarianten.

Zur Einordnung mag ein weiterer Seitenblick, diesmal in die Automobilindustrie des Jahres 2015 hilfreich sein: „Ende der 80er Jahre fertigte Audi nur 10 Modelle in 3 Baureihen: Audi 80, Audi 100 und Audi V8 (…) Heute produziert alleine die Audi AG in 12 verschiedenen Baureihen (…) 59 unterschiedliche Modelle. Am Beispiel des Audi A3, also nur einer Baureihe, ergeben sich durch die verschiedenen Extras, die geordert werden können, sagenhafte 110.338.690.475.432.439.829.762.481.848.32 0.000.000 (= 1,1 x 1038) unterschiedliche Fahrzeugvarianten und damit genau genommen die Losgröße „1“. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Audi in seinem Autoleben einem identisch ausgestatteten Audi begegnet, ist damit praktisch Null.“ (Hirschberg, C., 2015, IPL Magazin 30)

Im Build-to-order oder Mass Customization Prozess der Automobilindustrie haben konstruktive und logistische Anforderungen einen hohen Anteil. Im Vergleich dazu ist dieser in der Finanzindustrie geringer. Es gibt dort keine Produktzyklen und keine Fertigungsstrassen an internationalen Standorten, an die komplexe Zulieferketten just in time anliefern. Und es gibt keine Produktauslieferungen in reale Händlernetzwerke.

Was es hingegen gibt ist „build to order“ für HNWIs (High NetWorth Individuals), also vermögende Kunden, die noch nicht so viel Anlagevolumen haben um ein angestelltes Team mit dem Design und Management einer maßgeschneiderten Vermögensallokation zu betrauen.

Maßgeschneiderte Geldanlage für alle könnte eine Digitaliserungsrendite darstellen, die nicht nur kostenseitig, sonder auch funktional einen Unterschied macht und neu, weil früher unmöglich für jedermann zu bekommen.

Autofahren und gleichzeitig Telefonieren – Warum geht das?

Auto zu fahren ist interessant, weil anfangs alle Befehle ans Handeln gedacht und abgerufen werden müssen. Gasgeben, Bremsen, In-den-Rückspiegel-Schauen, Blinken usw. beschäftigt auch mental umfassend und erst nach einiger Zeit können die notwendigen Handlungen automatisch ablaufen und man kann während des Autofahrens ein Telefonat führen. Der Leser mag sich selbst schon nach einem Telefonat im fließenden Verkehr wiedergefunden und sich gefragt haben, wer eigentlich in den letzten Minuten gefahren ist. Solche Automatisierungen haben die Funktion, das Individuum von taktischen Planungen im Interesse weiter gespannter strategischer Planungen zu entlasten.

Dieser Ausflug in die Handlungsregulation und die Automatisierung von Verhalten, soll einen speziellen Aspekt der Digitalisierung hervorheben: Die Entwicklung eines speziellen Handlungsrepertoires zum Umgang mit Digitalisierung.

Ausgehend von der rapiden Entwicklung von Endgeräten hat sich ein Handlungsrepertoire etabliert, das automatisiert zur Bedienung von Anwendungen eingesetzt wird. Zwicken mit zwei Fingern (engl. „pincing“) zur Vergrößerung von Inhalten, der Umgang mit einer Maus im allgemeinen und speziell das Fahren über Elemente („hovering“), Doppelclick oder aber „Googeln“ sind nur einige Beispiele, die illustrieren, wie über den Umgang mit digitalen Anwendungen automatisiert verfügbare Handlungen etabliert wurden.

Was hat Automatisierung von Handlungsabläufen mit Geldanlage zu tun?

Beim Autofahren konnten wir kollektiv über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren lernen, dass es ohne weiteres gelingt, ein hoch motorisiertes und frei bewegliches Objekt in einer dynamischen Umwelt zu bewegen. In einem wesentlich kürzeren Zeitraum haben wir neue Automatismen im Umgang mit digitalen Endgeräten erworben.

Wir lernen und automatisieren die Bewältigung neuer Herausforderungen, wenn sie uns helfen strategische Ziele zu erreichen. Geldanlage zur persönlichen Vorsorge ist so ein strategisches Ziel mit erheblicher Bedeutung für jeden Einzelnen.

Risiko, Rendite, Maximum Drawdown, Value at Risk sind intellektuell kein Hexenwerk, aber für viele Kunden ohne Kontextualisierung nicht verständlich. Ein Value at Risk, der als Grenzwert nicht überschritten wird, wird dem Kunden nicht verständlich, wenn keine Visualisierung im Gesamtzusammenhang erfolgt. Aufs Auto übertragen handelt es sich um eine Art Geschwindigkeitsbegrenzung, deren Funktion im Gesamtgefüge der dem Fahrer zur Verfügung stehenden Systemanzeigen klar und deutlich ist.

Das kann als Plädoyer verstanden werden, ein Mehr an Komplexität zu wagen. Eine Dimension mehr zu zeigen, mit denen bis dato isolierte Variablen visualisiert und integriert in den Gesamtzusammenhang angezeigt werden. Eine Integration einzelner Variablen in einen Zusammenhang kann als Voraussetzung für eine erfolgreiche Handlungsregulation und damit die Automatisierung des Umgangs damit betrachtet werden.

Gerade Roboadvisor, die als Differenzierungsmerkmal eine echte Mass Customization scheuen, sollten überlegen, durch die Bündelung der Anzeige mehrerer Variablen oder aber neuartigen Interaktionsformen Erfahrungen anzubieten, die es heute noch nicht gibt.

Menschen sind dankbar, wenn sie neue Visualisierungen zu Erklärung der Welt angeboten bekommen, vor allem, wenn diese helfen übergeordnete Ziele zu erreichen.