Sonntägliche Spazierfahrten können zu den verblassten Mythen gezählt werden. Das Fahren wird heute zunehmend auf den reinen Transportnutzen reduziert. Die Berichte über den schlechten Zustand der Infrastruktur, die Baustellen, die „ständigen“ Staus führen dazu, dass eine störungsfreie Reise von A nach B eine Motivationswirkung entfaltet, die am ehesten der eines Hygienefaktors entspricht. Dessen Funktionieren wird vorausgesetzt, d.h. nur im Störungsfall wird ein Hygienefaktor überhaupt registriert und dann auch noch negativ. Man geht davon aus, dass die Fahrt „funktioniert“ und damit ihren Zweck erfüllt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Fahren zu einem Motivationsfaktor wird, versuchen Hersteller an das Auto und die Marke und die damit gekauften Eigenschaften zu knüpfen.
Hersteller erinnern uns gerne daran, dass wir mit ihren Produkten Freude empfinden können. Das ist gut, weil Fahren zu den Dingen gehört, die handlungsregulatorisch gesehen automatisiert werden. Die Werbung erinnert uns daran, dass weitgehend automatisiertes Handeln Freude macht. Wie automatisiert Fahren funktioniert, kennen viele Fahrer und Fahrerinnen, weil es gelingt, gleichzeitig zu fahren und zu telefonieren. Welche Empfindungen man hat, wenn man sich nach einem Telefonat im Auto fragt, wer eigentlich gefahren ist, können viele Kunden selbst beurteilen. Während die Motivationswirkung von Fahren schwindet, tauchen ständig neue Konzepte von Fahren auf. Neben technologischen Neuerungen rücken immer mehr erweiterte Konzepte von Mobilität in den Fokus der Hersteller.
Thematisch soll es hier um die Entfaltung und Nutzung der Bindungswirkung erweiterter Konzepte von Mobilität gehen. Erweiterte Mobilitätskonzepte verstehen den Hersteller als Mobility Service Provider und machen ihn damit zum Kümmerer für vielfältige, über das bisherige Statusobjekt Auto hinausgehende Aspekte. Damit stellt sich die Frage, wie die Touchpoints jenseits des eigentlichen Fahrzeugs entwickelt werden können, um die Interaktion und Bindung zwischen Hersteller und Kunden zu verbessern.
Heutige Touchpoints schaffen „gefährliche“ Kundenerlebnisse
Geht man davon aus, dass der Kunde sein Auto bei einem Vertragshändler kauft, ergeben sich nach dem Kauf eine Reihe von Touchpoints. Der gebräuchlichste Use-Case dürfte damit beginnen, dass das Display des (sonst) Freude verbreitenden Autos darauf hinweist, zur Inspektion zu fahren. Dazu muss man einen Termin vereinbaren und hinfahren und heimfahren und wieder hinfahren und den Wagen abholen und am Ende des Prozesses steht die Rechnung.
Auf allen Stufen dieses hier nur oberflächlich beschriebenen Prozesses lauern Gefahren, die eine positive Kundenbeziehung beeinträchtigen können. Einige dieser Touchpoints sind strukturell negativ behaftet (weil eine Inspektion immer lästig ist und Geld kostet), andere können nicht positiv wahrgenommen werden (eine angenehme, schnelle Terminvereinbarung wird als selbstverständlich erwartet), aber sehr wohl zu einem negativen Erlebnis führen.
Anders als beim Auto, also dem Kernprodukt, hat der Hersteller jenseits von Qualitätsdefinitionen für die Händler- und Werkstatt-Touchpoints vergleichsweise geringen Einfluss. Geringer Einfluss und hohes Potenzial für negative Erlebnisse rücken den Händler/die Werkstatt nicht gerade in die vorderste Reihe der Einheiten, denen eine führende Rolle bei erweiterten Mobilitätskonzepten zugeschrieben werden würde.
Konzepte wie Mobility Services sind nicht nur weiter gefasst, sondern sie verändern die Perspektive. Im Detail interessiert uns die Frage, wie Hersteller vorhandene Touchpoints in weiter gefasste Konzepte wie Mobility Services einbinden und „auf die Gasse bringen“ können. Ganz speziell schauen wir auf die Finanzdienstleistungen des Konzerns und diskutieren die Hypothese, dass sich diese in einer „Pole-Position“ befinden, um bereits vorhandene Touchpoints zu nutzen und auszubauen.
Financial Mobility Services
Im Rahmen von Finanzdienstleistungen zur Finanzierung von Autos gibt es schon heute viele Touchpoints, weil 90% der Kunden ihren Wagen finanzieren und beim Hersteller selbst ca. 50% der Finanzierungen abgeschlossen werden. Die heute stattfindenden Kontakte des Kunden mit dem Thema Finanzierung/Leasing sind aus vertraglichen und regulatorischen Gründen unausweichlich und der Hersteller hat weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten.
Auch kennt die Finanzierungseinheit des Automobilkonzerns das Auto des Kunden und eine ganze Reihe von relevanten zusätzlichen Daten und kann diese im Zeitverlauf einordnen. Auto und Finanzierungsparameter bilden eine Einheit, die durchaus mit dem Zusammenhang zwischen Kundenprofil und Investmentportfolio im Bereich Geldanlage verglichen werden kann. Eine Erfassung des Profils des Kunden ist regulatorisch vorgeschrieben und wird bezeichnender Weise als Know Your Customer (KYC) beschrieben. Erfasst werden kundenindividuelle Informationen zur Risikoneigung und den Anlagezielen und -horizonten, zu finanziellen Verhältnissen, Erfahrungen und Kenntnissen. Die KYC-Daten werden zum bestehenden Produkt- und Serviceangebot der Bank in Beziehung gesetzt, damit die Handlungsempfehlungen eine möglichst gute Passung zum Kunden haben.
Die Bank verdient mit den Portfoliopositionen des Kunden Geld, nicht jedoch mit dem Kundenprofil. Allerdings sind die Kundenprofildaten die Basis um aus der vertraglich und regulatorisch vorgeschriebenen Information zu Portfolioinhalten einen übergeordneten Zusammenhang zu adressieren. Die Gebühr für ein Investmentprodukt ist mindestens so lästig und langweilig wie die Inspektion eines Autos. Hingegen wird aus einem Investmentprodukt, mit dem sich die Bank um die private Vorsorge des Kunden kümmert, ein konstitutives Element eines für den Kunden bedeutsamen Plans.
Dies könnte man bei Autos ganz ähnlich sehen. Das Fahrzeugmodell, die Austattung und die Finanzierungsparameter erlauben im Verbund mit weiteren Kundendaten valide Prognosen zu künftigen Präferenzen im Lebenszyklus des Kunden.
Die planmäßigen Touchpoints der Finanzierung können hierbei eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind zwar langweilig, aber vom Hersteller kontrolliert. Sie können eingebettet in ein erweitertes Modell von Mobilität zu Ankerpunkten neuer Servicemodelle werden. Gerade mit Blick auf erweiterte (Service-)Modelle, bei denen das Auto nicht mehr ausschließlich die zentrale Rolle spielt, ist ein erweiterter Blick auf den Kunden erforderlich.
Vielleicht führt eine derartige Veränderung der Perspektive sogar zu neuen Angeboten, mit denen die oben beschriebenen Störpotenziale an den Touchpoints nicht nur vermieden werden können, sondern bei denen es zu ganz neuen Angeboten kommt, die die bisher fürs Kernprodukt Auto reklamierte Freude am Fahren erhalten und erweitern helfen.
Lesen Sie hierzu auch unseren Beitrag „Mehrdimensionale Kundenprofile“.